Imaginäres Interview – Teil 1

Teil 1: Kuscheln ist unterschätzt und ein Tabu

Inspiriert durch das FM4 Interview in der Sendung „Auf Laut“ mit Elisa hatte ich das Bedürfnis einige wichtige Fragen davon aufzugreifen, weitere zu ergänzen und ausführlich zu beantworten – in 3 Teilen.

 

Was ist Kuscheln?

  • Streicheln, Kraulen, Kneten, sanftes Kratzen, Kämmen, Drücken, Umarmen, Kopf ablegen, Halten, Wärme fühlen, mit dem Tastsinn spielen, fallen lassen.

Welche Reaktionen gibt es, wenn man über das professionelle Kuscheln redet?

  • Es wird sich darüber lustig gemacht. Zum einen ist es natürlich sehr ungewöhnlich, Kuscheln als Dienstleistung anzubieten. Das würde allerdings noch nicht genügen, um ein Lachen auszulösen, bei dem eine Abwertung mitschwingt. Woher also dieser ablehnende Impuls? An sich ist es klar, dass Berührung und Kuscheln etwas völlig Normales ist. Tatsächlich ist es aber keine Ausnahme, dass man im Alltag keinen Zugang zu absichtsloser Berührung hat. Erst recht, wenn man keinen Partner hat. Weiterhin wird im ersten Moment nicht daran gedacht, dass Kuscheln zu kurz kommt oder dass Kuscheln so wichtig ist. Ein Drittel der Deutschen wünscht sich mehr Umarmungen im Alltag. Und auch die Free Hugs Bewegung trifft einen Nerv unserer Zeit. Die fundamentale und vielfältige Wichtigkeit von Berührung ist noch nicht bekannt.

 

Warum ist es mutig sich fürs Kuscheln einzusetzen?

  • Weil viele Menschen Kuscheln als unwichtig erachten und den Einsatz dafür als lächerlich empfinden.
  • Es gibt starke Konventionen, deren Änderung zäh und schwer ist: z.B. „Kuscheln ist auf den intimen Partner beschränkt“ oder „Kuscheln ist in einer sexuellen Funktion zu verstehen“
  • Kuscheln ist grundlegend wichtig für eine gesunde Entwicklung, ein gesundes physisches und psychisches Leben und zwischenmenschliches Miteinander. Ohne Berührung gäbe es keine funktionierende Gesellschaft!!

 

Kuscheln ist unterschätzt

  • Kuscheln hat es verdient, wieder zum Zweck an sich zu werden: „Kuscheln um des Kuschelns Willen“. Kuscheln hat fundamentale Auswirkungen auf uns und unsere soziale Umwelt. Es spielt eine entscheidende Rolle bei Selbstzufriedenheit, einer Stärkung des Immunsystem, unserer Identität, einer gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung, und um Emotionen und Gesten von Anderen wahrnehmen und interpretieren zu können.
  • Mit ausreichend Berührung fühlt man sich glücklicher, zufriedener, selbstsicherer, alles macht Sinn, man fühlt ein Vertrauen in sich und in die Anderen.
  • Die Idee des professionellen Kuschelns entstand in San Fransisco mit der Erkenntnis, dass Kuscheln heilsam ist.
  • Der Tastsinn ist nicht ohne Grund der Sinn, für den die meiste Gehirnaktivität zur Verfügung steht. So Martin Grunwald, Pionier der Haptik Forschung: „Vor dem Hintergrund der übergroßen Anzahl tastsinnesspezifischer Rezeptoren und der Erkenntnis, dass die Impulse dieses Rezeptornetzes auch unter Ruhebedingungen ständig neuronal verwaltet und strukturiert werden, ist verständlich, warum die Verarbeitung von Tastsinnesreizen eine der zentralen Leistungen unserer Hirnaktivität darstellen muss. Es mag wohl möglich sein, dass einige Menschen für die kurzen Momente aktiver Denkleitungen nur zehn Prozent ihrer Hirnaktivität aktivieren, doch für die Prozesse des Tastsinnessystems reserviert die Natur vorsorglich 100 Prozent. Immer. Und selbst geringe Störungen dieses Systems gefährden den Lebensvollzug eines Menschen.“ Leider ist der Tastsinn der Sinn, der bisher natur- und geisteswissenschaftlich sträflich völlig vernachlässigt wurde.

Quelle: „Homo Hapticus -Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“, Dr. Martin Grunwald, 2017; Droemer-Verlag, ISBN 987-3-426-27706-5

 

Warum ist Kuscheln gesellschaftlich tabuisiert? Wie kam es dazu?

  • Die Berührungshäufigkeit schwankt zwar in unterschiedlichen Kulturen, jedoch leiden Menschen in der westlichen Welt durchweg immer mehr unter Berührungshunger.
  • Ein Grund dafür liegt sicherlich in der Technisierung und vor allem Digitalisierung unseres Zeitalters: die Menschen sind online vernetzter denn je und offline einsamer und isolierter denn je. Das ist keine überraschende Neuigkeit mehr.
  • In der Moderne greift außerdem die Angst vor sexuellen Übergriffen um sich. Berührung wird immer mit einem sexuellen Kontext aufgefasst. Um seine Kinder davor zu schützen, herrscht auch in der Erziehung eine berührungsfeindliche Haltung (gegenüber Berührung des Kindes von Fremden, Kindergärtner, Lehrer usw.). Schlagzeilen in denen missbrauchende Berührung von Erziehungsverantwortlichen stattfand, brennen sich in die Köpfe und versteinern die fatale Devise: „Lieber gar keine Berührung, als die Gefahr von falscher Berührung.“
  • Die Bedeutung von Berührung als sexueller Annährung ist allgemeingültig geworden, sodass sie oft nur noch für diesen Zweck benützt wird. Es gibt kaum noch Kuscheln um des Kuschelns willen. In Beziehungen ist es oft üblich, dass Kuscheln nur das Vorspiel zu Sex ist. Das empfangende Gegenüber weiß um diese Bedeutung und geht daher in Abwehrhaltung: Die erste zugelassene Berührung ist schon ein erster Schritt zum Endziel der Verkettung von unausweichlichen Folgen: Sex. Meistens ist die Stimmung dazu jedoch nicht vorhanden.

 

Wo suchen wir nach Berührung im Alltag?

  • Der Health-Care und Beauty Bereich boomt nicht zuletzt auch daher, weil absichtslose Berührungen erfahren werden können: etwa beim Kopfwaschen beim Friseur oder beim Masseur oder Sportarten und Entspannungskursen mit Körperkontakt.
  • Auch Haustiere sind ein beliebtes Medium, um Kuscheln und Spielen zu erfahren. Man braucht sich hier nur die Statistiken zum Besitz von Haustieren in Deutschland anzuschauen und zu staunen.

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